Als grosser Fan von H.R. Giger und den Werken des polnischen Künstlers Zdzisław Beksiński war ich äusserst gespannt, was das serbische Entwicklerstudio Ebb Software aus der Materie herausholen würde. Und obwohl das Endresultat nicht viel mehr ist, als ein verstörend schöner Walkingsimulator, sollte man sich die abgefahrene Reise auf jeden Fall geben.
Atmosphäre und Stil sind das, was in Scorn die wichtigste Rolle spielt, worauf sich die Entwickler am meisten verlassen haben und was ihnen am Ende auch am besten gelungen ist. Gleich vorweg; Scorn sollte man alleine spielen, in einem abgedunkelten Raum und mit Kopfhörer. Sich von der realen Welt abzukapseln ist letztlich die beste Einstellung, um das Spiel wirklich zu geniessen. Keine Bange, Horror oder Jumpscares gibt es hier nicht. Der im Vorfeld behauptete Horror findet gar nicht statt. Scorn ist weder gruselig noch unheimlich, sondern eher derb verstörend. Abgesehen vom Spielmenü gibt es so gut wie keinen Text, es wird nicht gesprochen und man wird ohne Vorwarnung oder Erklärungen ins Spiel geworfen. Die Entwickler überlassen jegliche Interpretation voll und ganz dem Spieler. Man nimmt nur das mit, was man aus der Umgebung und den Szenen selbst herauslesen kann.
Wir erwachen als humanoides, aber vermutlich nicht menschliches Wesen, das in den Armen einer biologischen Masse aus einem traumlosen Schlummer gerissen wird, wie ein Fötus aus dem warmen Mutterleib. Was folgt ist ein Stakkato greifbarer Kälte, Abwesenheit von Gefühlen und tiefem Schmerz. Wir versuchen noch unsere zerbrechliche, nackte Hülle zu retten, aber schon bald stürzen wir in die apokalyptischen Tiefen, die zu gleichen Teilen aus kaltem Stahl und warmem Fleisch bestehen. An welches Ziel sich unser gottloser Mann klammert, sollen wir im Laufe der rund 6 Stunden selbst herausfinden.
Scorn ist im Wesentlichen ein Walking Simulator mit ein paar räumlichen Rätseln, sehr begrenzter Action und nur einem einzigen Bosskampf, auf den man meiner Meinung nach eigentlich ganz gut verzichten könnte. Was einen antreibt ist vielmehr die Gestaltung der Umgebungen und die Neugier, welche kranken Szenerien uns als nächstes erwarten. Unser namenloses, stummes Mündel wird schweigend durch verwaiste Gänge geleitet, die von Göttern gebaut worden sein müssen, oder zumindest von jemandem, den man für einen Gott hält. Die Ratlosigkeit macht sich ziemlich schnell breit. Bereits das erste Puzzle besteht aus mehreren scheinbar nicht zusammenhängenden Elementen, die über ein recht grosses Gebiet verstreut sind. In Anbetracht der nicht vorhandenen Logik dieser Welt sucht man in den Puzzles eben jene vergebens und ich bin öfters längere Zeit im Dunkeln getappt, bevor ich auf die Lösung gekommen bin.
Wer mit sowas ein Problem hat, kann hier bereits aufhören zu lesen. Scorn würde euch langweilen. Ebenso Action-Fans, denn obwohl man in Scorn auch mit vier organischen Waffen hantiert ist es meist ratsamer, die wenigen Feinde schleichend zu umgehen. Munition und Lebensenergie ist knapp, die Gegner stark und die Checkpoints liegen vielfach weit auseinander und sind oft suboptimal platziert. Alle Teile des Arsenals (wie auch alles andere, was der Protagonist im Laufe des Spiels bei sich trägt) werden buchstäblich zu einem Teil seines Körpers, und sogar die Munition selbst fühlt sich verdächtig organisch an. Kugeln und Heilflüssigkeit werden auf eine Art und Weise injiziert, die meiner Meinung nach eher schmerzt als hilft. Sogar Schlüssel werden in einem ziemlich blutigen Ritual mit Hilfe einer Art Maschine mit der Hand verschmolzen. Pinhead hätte seine wahre Freude an alle dem!
Scorn ist für mich weniger Spiel, als vielmehr ein audiovisuelles Erlebnis. Wir durchlaufen verschiedene äusserst eindrückliche Umgebungen, die alle auf ihre eigene Art und Weise fesseln: von dunklen und trostlosen Korridoren und riesigen Hallen, deren Zweck wir nur erahnen können, bis hin zu monumentalen Palästen, die sich für unseren gequälten Unglücklichen wie der Himmel anfühlen müssen, falls der Himmel in diesem Universum überhaupt noch existiert. Scorn ist auch kein Survival Horror Spiel. Es gibt keine permanente Angst sein Leben zu verlieren, sondern es vermittelt eher den Eindruck, ein kleiner Wurm zu sein, der sich irgendwie noch krampfhaft an sein Leben klammert. Unsere Bedeutungslosigkeit und Unbedeutsamkeit angesichts der brutalen, herzlosen und effizienten Maschinerie dieser Welt, in der wir uns befinden, schlägt richtiggehend auf den Magen. Einer der für mich denkwürdigsten Momente im ganzen Spiel war der, als ich eine andere Kreatur mutwillig verletzen musste, um weiterzukommen. In dem Moment, in dem ich dem armen Wesen Schmerzen zufügte, beugte es sich vor sah mich mit Wut und Verzweiflung in seinen leeren Augen an. Starker Tobak Freunde!
Scorn und seine Ästhetik funktionieren vor allem als Ganzes grossartig. Die Grafik ist ein Fest für die Sinne. Zu den bereits erwähnten organischen Waffen gesellt sich biomechanische Maschinerie. Fast alle Instrumente und Terminals sind (oder waren) zuvor lebendig. Anstelle von traditionellen Hebeln stecken wir Finger in enge Schlitze und dehnen Sehnen, stossen unseren Presslufthammer in Löcher aus Fleisch und Knochen und geniessen dazu herrlich atmosphärische Musik und schaurige Sound-Effekte.
Gigers typische sexuelle Motive sind hier natürlich reichlich vertreten, angefangen bei jeder Menge phallischen Formen bis hin zur Penetration aller möglichen Löcher, die als Schlösser fungieren. Sinn macht das alles nicht, soll es auch nicht. Meine grösste Sorge war, dass es den Entwicklern nicht gelingen würde, die Grenzen des "guten Geschmacks" einzuhalten und sich Scorn als ein weiterer Agony- oder Succubus-Verschnitt herausstellt. Und obwohl Scorn mindestens in einem Moment ähnlich geschmacklos war, ist das Niveau hier doch ein komplett anderes.
Eine weitere gute Nachricht ist, dass sich dieses Indie-Spiel zu jeder Zeit wie ein waschechtes Triple-A Game anfühlt, und ich bin auch auf keine technischen Probleme oder Bugs gestossen. Mein einziger Kritikpunkt ist die Botschaft, die mir Scorn vermitteln will. Es gibt nämlich keine. Die Handlung, vor allem am Ende, ist offen für eigene Interpretationen und das Finale dahingehend wenig befriedigend, ja gar enttäuschend. Das wäre an sich kein Problem, es gibt schliesslich viele Spiele mit zweideutigen oder undurchsichtigen Botschaften. Es ist aber eher albern, wenn mein Charakter im Spiel Dinge tut, deren Beweggründe mir komplett verborgen bleiben.
Fazit:
Haben sich die vielen Jahre des Wartens gelohnt? Scorn hat mich nicht enttäuscht, aber ich hab auch kein "DOOM" oder überhaupt ein Action-Spiel erwartet. Scorn ist ein gemächlicher, audiovisueller Porno für Fans eines bestimmten Kunststils. Ein sympathischer One-Shot, zu dem ich wahrscheinlich nie zurückkehren werde, den ich aber beim einmaligen Durchspielen von A-Z genossen habe, gerade als Fan von H.R. Giger. Setzt einfach ohne Erwartungen die Kopfhörer auf und begebt euch auf diese einzigartige und groteske Reise. Ihr werdet mit einem wahrlich besonderen Erlebnis belohnt.
Scorn befand sich zum Zeitpunkt dieses Tests im Xbox Game Pass und ist nur für PC und Xbox-Konsolen zu haben. Ein Test-Muster brauchten wir folglich nicht. Danke Microsoft.
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