Wenn einem selbst Wochen nach Beenden eines Spiels allein beim Gedanken daran immer noch das Frühstücks-Ei im Hals stecken bleibt, sollte das doch eigentlich ein gutes Zeichen sein, oder etwa nicht?
Gleich zu Beginn möchte ich klarstellen, dass Martha is Dead ein Spiel für Erwachsene ist und absolut nicht in Kinderhände gehört. Es beinhaltet viele visuell beunruhigende Szenen, die selbst bei mir regelmässig für Unbehagen sorgten. Es erforscht die Komplexität der menschlichen Psyche, psychologische Traumata und geizt nicht mit Szenen voller Blut, Verstümmelungen, entstellten Körpern und Szenen von Selbstverletzung.
Martha is Dead ist ein düsterer Psychothriller aus der Egosicht, der die Grenzen zwischen Realität, Aberglaube und Kriegstragödie nur allzu gern verschwimmen lässt. Als sich der Konflikt zwischen den deutschen und alliierten Streitkräften im Juni 1944 zuspitzt, wird die geschändete Leiche einer ertrunkenen Frau gefunden. Martha ist tot, und ihre Zwillingsschwester Giulia, die junge Tochter eines deutschen Generals und einer Italienerin, muss allein mit dem akuten Trauma des Verlustes und den Folgen dieses Mordes fertig werden. Die Jagd nach der Wahrheit wird von mysteriösen Gegebenheiten und den ständigen Schrecken des 2. Weltkriegs begleitet.
Action sucht man in Martha is Dead vergeblich. Dreh- und Angelpunkt der Geschichte ist ein idyllisches Anwesen in der Toskana. Hier hin hat sich gegen Ende des Krieges die Familie des deutschen Generals Erich K. (gesprochen von Udo Kier) zurückgezogen. Mutter und Töchter sind allein gelassen, denn Erich muss sich der steigenden Bedrohung durch die Alliierten im Land stellen. Darum geht Giulia am liebsten ihrem Hobby nach; der Fotografie. Fotos zu schiessen, in der Dunkelkammer zu entwickeln und anschliessend zu analysieren ist ein wichtiger Bestandteil von Martha is Dead.
Verschiedene Linsen, Objektive, Filmtypen und ein Stativ wollen richtig eingesetzt werden, um aussagekräftige Innen-, Aussen- und Nachtaufnahmen zu knipsen. Infrarot-Linsen fangen beispielsweise Dinge ein, die mit blossem Auge nicht zu sehen sind. Brennweiten, Belichtungszeiten und Fokus wollen an der alten Rolleicord Spiegelreflexkamera selbstverständlich manuell eingestellt werden. Ebenso originalgetreu geht es bei der Entwicklung der Negative zu und her und dass selbst namhafte Hersteller wie Agfa oder Leitz im Spiel vertreten sind zeigt, dass hier echte Fotografie-Nerds am Werk waren.
Es werden aber nicht nur Fotos geschossen. Auf der Suche nach Martha’s Mörder durchsuchen wir das ausschweifende Landgut in bester Open-World Manier nach Hinweisen, führen Telefongespräche, lesen Briefe und historisch akkurate Zeitungsartikel und öffnen verschlossene Türen mit gefundenen Schlüsseln. Währenddessen erklingen aus den «Volksempfängern» authentische Songs und News-Meldungen aus dieser turbulenten Zeit. Da passt es nur zu gut, dass nationalsozialistische Symbole wie SS-Runen oder Hakenkreuze nicht zensiert wurden. All das sorgt für eine greifbare und zum Schneiden dichte Atmosphäre, die manchmal gewollt schwer im Magen liegt. Die Entwickler haben akribisch auf kleinste Details geachtet, um diese Epoche möglichst unverfälscht und authentisch einzufangen.
Ab und zu wird man vor Entscheidungen gestellt, die den weiteren Verlauf der Story marginal beeinflussen. So stellt sich beispielsweise die Frage, ob wir den italienischen Partisanen der Resistenza beim Kampf gegen die Nazis helfen, oder doch lieber unserem deutschen Vater den Rücken decken. Dabei verzichtet das Spiel bewusst auf eine Schwarz-Weiss Darstellung. Die Botschaft, dass in einem Krieg immer beide Seiten leiden und es keine Gewinner gibt, ist ein Grundpfeiler von Martha is Dead.
Wenn sie nicht gerade neuen Hinweisen hinterherjagt und die nervliche Belastung eines weiteren Tagtraums ertragen muss, spielt Giulia gerne mit ihrem Puppentheater, kann ihre Tarotkarten nach kryptischem Rat fragen oder sich mit einer mysteriösen Entität unterhalten, die am nahegelegenen See ihr Unwesen treibt. Diese «Frau in Weiss» wurde der Legende nach von ihrem Liebhaber aus Eifersucht im See ertränkt und ist nun dazu verdammt, das kühle Nass bei Nacht und Nebel heimzusuchen, nachdem ihr Lover des Verbrechens schuldig befunden und an einem Baum auf einer kleinen Insel in der Mitte des Gewässers gehängt wurde.
Auf der technischen Seite kämpft Martha is Dead noch ein bisschen mit sich selbst. Wenn ich mich mehrfach neu positionieren muss, damit die Interaktion mit einem Objekt in der Spielewelt klappt, ist das einfach nervig. Ebenso, wenn ich durch Bugs am Fortschritt gehindert werde, nicht über kleinste Hindernisse springen kann oder irgendwo in einem Baum feststecke und dann den letzten Spielstand laden muss. Die Sprachausgabe in Deutsch ist gelungen, aber asynchron mit den Lippenbewegungen der Akteure. Das Original wurde mit italienischen Schauspielern vertont. Gerade von Udo Kier, der hier gleich 3 Sprachen einspricht, hätte ich eine viel bessere Performance erwartet. Der gute Mann scheint beim Reden fast einzuschlafen. Optisch hat mir Martha ist Dead hingegen gut gefallen. Auf Series X und PS5 gibt’s zwei Grafik-Modi zur Auswahl: Qualität mit 4k/30fps oder «Performance» mit dynamischen 2k, dafür aber mit stabiler Framerate von 60fps.
Fazit:
Das kleine Entwicklerteam LKA aus Florenz, Italien besteht aus gerade mal 10 Personen. Obwohl sie dadurch mit vielen technischen Einschränkungen zu kämpfen haben, gibt es in Sachen Wagemut und Ehrgeiz scheinbar keine Grenzen, speziell wenn es um die Erzählung einer schwierigen und unbequemen Geschichte geht. In Martha Is Dead ist genau jene der wahre Protagonist. Komplex und kompliziert, basierend auf einer verzerrten Sicht der Welt, wechselt sie stetig zwischen Traum- und Realitätssequenzen, die oft nur schwer voneinander zu unterscheiden sind. Martha ist Dead ist sicherlich kein Spiel für jedermann, wird aber jeden mit seinem persönlichen Charakter und der starken Erzählung fesseln - wenn man sich darauf einlässt. Man muss allerdings einen guten Magen haben und darf sich nicht allzu viele Fragen stellen. Die Story sollte eher emotional als rational erlebt werden. Selbst das Ende ist für eigene Interpretationen offen. Wer aber die Fremdartigkeit und «Weirdness» akzeptiert wird Momente und Gefühle erleben, die es so in einem Videospiel nur selten gibt. Man spürt zu jeder Zeit die Passion der Entwickler, hier etwas einzigartiges schaffen zu wollen. Und auch wenn das Spiel nicht fehlerfrei ist und im Gewaltgrad oft grenzwertig, kann ich Martha is Dead jedem Freund aussergewöhnlicher Spiele nur wärmstens ans Herz legen. Es ist ein Trip, den ihr so schnell nicht vergessen werdet.
Wir haben Martha is Dead auf Xbox Series X getestet. Das Spiel ist auch für PS4/5 und PC erhältlich. Die Playstation-Versionen sind leider geschnitten. Wer es uncut will, besorgt sich die Xbox- oder PC-Version. Das Test-Muster stammt von Publisher Wired Productions, wofür wir uns herzlich bedanken!
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