Ich gebe zu, dass ich schon lange fasziniert von Tschernobyl bin und irgendwann auch den Ort besuchen möchte. Dies wird aber noch eine Weile dauern. Einen digitalen Ausflug in die Zone kann ich nun aber dank Farm51 und Chernobylite unternehmen.
Chernobylite erschien bereits diesen Sommer für den PC. Nun wurden die Konsolenversionen nachgereicht. Jodtabletten und 'ne Flasche Wodka sind eingepackt. Mal sehen, ob sich das zukünftige S.T.A.L.K.E.R. 2 warm anziehen muss.
Wir übernehmen den Part von Igor Chiminuk, der als Physiker mit seiner Verlobten Tatiana im bekannten Kernkraftwerk arbeitete, als der fürchterliche Umfall passierte. Er überlebte das Unglück, aber seine Herzallerliebste ist seit der Katastrophe einfach verschwunden. 30 Jahre später ist er noch immer fest davon überzeugt, dass sie noch lebt und irgendwo auf dem Gelände ist. So macht er sich auf den Weg zum Reaktor, begleitet von zwei Kameraden. Dort angekommen findet er das namensgebende "Chernobylite". Ein grünleuchtendes Mineral, dass über enorme Energie verfügt. Und dann passiert es; die Drei werden von einem dunkeln "Stalker" überrascht. Dank einem handlichen Gerät und dem gefundenen Chernobylite fabriziert Igor einen Riss im Raumzeitkontinuum und "beamt" sich und seine Freunde in Sicherheit.
Alle die jetzt denken: "Das klingt aber abgefahren!", sind in guter Gesellschaft. Auch ich hatte nach dem Intro bereits die ersten Fragezeichen über meinem Kopf, die leider bis zum Ende des Spiels nicht alle verschwanden. Zu aller erst: Wie konnte er die Reaktor-Explosion überleben? Wieso sucht er erst 30 Jahre später nach seiner zukünftigen Frau? Trotz des Ablebens eines Begleiters gibt Igor aber nicht auf und will einen weiteren Rettungsversuch wagen, diesmal aber besser vorbereitet. Dafür hat er ein runtergekommenes Lagerhaus gemietet, von wo aus er seine nächsten Ausflüge plant. Unterstützung bekommt er von bis zu fünf Helfern, die er im Laufe der Geschichte kennenlernt und rekrutieren kann. Die begleiten ihn aber nicht persönlich, sondern werden jeden Tag auf eigene Missionen geschickt, kümmern sich um Nahrung oder anderen Loot. Allerdings muss für ihr Wohl gesorgt werden. Sie brauchen Schlafmöglichkeiten und Essenrationen, wofür wir wiederum das Lagerhaus ausbauen und verschönern. Das nötige Material und die Lebensmittel finden wir auf unseren Ausflügen in der Zone.
Ein ständiger Begleiter ist der Geigerzähler, der nicht nur die Strahlung misst, sondern auch die Umgebung scannt und nützliche Sammelgegenstände und wichtige Orte aufzeigt. Das Crafting funktioniert nicht nur in unserer Basis, sondern auch draussen im Gelände. Dort können wir Fallen basteln oder ganze Maschinen, die zum Bespiel die hohe Strahlung in der Umgebung absorbieren, damit wir weniger Schaden nehmen. Die atomare Verseuchung ist aber nur eine Gefahr, die uns erwartet. KGB-Söldner schiessen immer zuerst, bevor sie Fragen stellen. Die KI schwankt aber von saudumm bis ziemlich treffsicher. Am einfachsten macht man sich das Leben, wenn man die Schurken lautlos ausschaltet oder ihnen direkt aus dem Weg geht.
Natürlich dürfen auch seltsame Schattenmonster nicht fehlen. Solltet ihr trotzdem mal das Zeitliche segnen, ist das Spiel nicht einfach zu Ende. Ihr landet in einer Zwischenwelt, die man bereits vom Fluchtversucht aus der Anfangsmission kennt. Hier kann man seine bisherigen Handlungen, die zum Ableben geführt haben, ändern und einen neuen Versuch starten. Dieser Aspekt gehört zu den originellsten Ideen des Spiels. So verläuft ein Tag nach dem anderen ähnlich. Am Morgen werden die Missionen verteilt und für sich selber ausgesucht. Dann geht es in eines der fünf Areale, die leider sehr überschaubar sind. Am Abend trifft man sich wieder, nutzt die gefunden Ressourcen und verbessert seine Basis und Ausrüstung an der Werkbank. Das ganze hat mich irgendwie an Fallout erinnert.
Für die gewonnenen Erfahrungspunkte bringen uns die Begleiter neue Skills bei, was ebenfalls typische Rollenspielelemente ins Spiel bringt. Das scheint auch bei den zahlreichen Dialogen und den Entscheidungsfreiheiten durch, was wirklich toll umgesetzt wurde. Gefährten und NPC’s reagieren dynamisch auf unsere Entscheidungen.
Bei einem Spiel, das bereits schon länger in der EarlyAccess-Phase auf dem PC gespielt werden konnte, stellt sich jetzt natürlich die Frage, wie gut es denn auf die Konsole portiert wurde. Hier kann Chernobylite leider nicht überzeugen. Die Welt ist zwar meistens sehr schön anzusehen und atmosphärisch. Dazu tragen auch kurze Visionen und Geräusche bei, die Igor regelmässig heimsuchen und es lohnt sich, die Sprachausgabe auf Russisch eingestellt zu lassen. Ein grosses Lob muss man den Entwicklern aussprechen, dass sie auch wirklich vor Ort waren und sogar einige Ortschaften und Gebäude realistisch ins Spiel übernommen haben. Umso mehr stören dann aber die ständigen Ruckler und Bugs. Einmal bin ich sogar durch den Boden gefallen und musste den letzten Spielstand laden. Sowas ist einfach ärgerlich und dürfte nicht passieren.
Fazit:
Wie sagt man so schön: Das Gegenteil von Gut ist gut gemeint. Man spürt, dass sich die Entwickler wirklich Mühe gegeben haben. Chernobylite will aber einfach zu vieles gleichzeitig sein. 3D-Shooter, Rollen- und Horrospiel mit Crafting- und Personalmanagement. Das Resultat ist weder Fleisch noch Fisch. Vor allem eine komplett offene Spielewelt vermisse ich schmerzlich. Die Story ist trotz einigen Ungereimtheiten zwar gut und spannend erzählt, hätte man diese aber in einer Open World platziert und dafür die Basisbasteleien weggelassen, wäre mehr Spielspass drin gewesen. Die technischen Probleme fallen ebenfalls negativ auf. Ich hab das Spiel auf der PS4 getestet und vielleicht macht ja die PS5-Version eine bessere Figur, wenn sie erscheint. So oder gehören Ruckler und Bugs heute in kein Spiel mehr. Im Gegenzug darf man aber den relativ günstigen Preis nicht vergessen und die lange Spieldauer von 15 bis 20 Stunden. Wer sich für die Thematik interessiert und ein paar kuriose Geschichten und Personen kennen lernen möchte, sollte Chernobylite vielleicht trotzdem eine Chance geben.
Wir haben Chernobylite auf Playstation 4 getestet, es ist aber auch für den PC und Xbox One erhältlich und soll 2022 für Playstation 5 und Xbox Series X erscheinen. Das Test-Muster stammt vom Publisher Plan of Attack. Vielen Dank!
UPDATE: 2. Mai 2022 - NextGen Upgrade (PS5 und Xbox Series X)
Nach Stephans Fazit war für mich klar, dass Chernobylite in mein Beuteschema passt. Ich wollte das Spiel auf jeden Fall abchecken. Klar war aber auch, dass ich die Version für PS4 und Xbox One nicht spielen wollte. Die von Stephan angesprochenen Stabilitäts- und Performanceprobleme sind für mich die fiesesten Spielspass-Killer, abgesehen von Bugs. Darum war ich angenehm überrascht, dass The Farm 51 relativ schnell die NextGen Fassungen nachlieferte. Und die hab ich mir angesehen.
Fazit:
Der eigentümliche Mix aus Base-Building, RPG und Egoshooter wird auch nach diesem Upgrade nicht jedermanns Sache sein. Es kann langatmig und manchmal auch verwirrend sein. Wer aber dranbleibt, wird ein erfrischend anderes Spiel vorfinden, das weit mehr ist als die Summe seiner Teile. Chernobylite bot für mich eine fesselnde, nicht-lineare Erzählung, die mich sogar dazu ermutigte, mit der Zeitlinie zu experimentieren, damit die End-Mission perfekt über die Bühne geht und das alles, ohne dass ich grosse Teile des Spiels wiederholen musste. Die Missionsstruktur fand ich ebenfalls ideal, da man auch in kürzeren Sessions Erfolge feiert. Nennenswerte Performance- und Stabilitätsprobleme gibt es in dieser NextGen-Fassung keine mehr und auch wenn die Grafik noch einen Ticken hübscher hätte sein können darf ich sagen, dass Chernobylite durchaus gut aussieht. Wer bislang abgeschreckt war, sich aber für diese Art von Spiel interessiert, sollte Chernobylite spätestens jetzt eine Chance geben.
Wir haben die Xbox Series X Version von Chernobylite getestet. Die PS5 Version ist mit jener identisch. Das Test-Muster stammt von Publisher Plan of Attack. Vielen Dank dafür!
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