Russland 1955. Die Kommunisten haben den Zweiten Weltkrieg gewonnen. Dank einer neuartigen Energiequelle besitzen die Russen bereits eine Technologie namens Kollektiv 2.0, von der wir auch heute nur träumen würden. Die Gesellschaft ist komplett automatisiert und die meisten Aufgaben werden von Robotern übernommen. Das sieht nach einer erfolgversprechenden Zukunft aus, oder?
Zum Start von Kollektiv 2.0 ist die Obrigkeit in bester Feierlaune. In einem utopischen Pedalo tuckern wir gemütlich als Sergej Netschajew bzw. "Agent P-3" durch einen Kanal. Dutzende von Drohnen fliegen durch den Himmel, überall hängen Luftballone und es liegt eine festliche Atmosphäre in der Luft. Wir befinden uns in der futuristischen Stadt Tschelomei. Auf unserer kleinen Bootstour passieren wir eine Frau, die ein Hausschwein Gassi führt, nebenan hängt ein Fahrrad in einem Baum und etwas weiter unterhalten sich drei Androiden mit leichten Verständigungsschwierigkeiten. Ein ganz normaler Tag in Tschelomei eben.
Nach der kurzen Kanalfahrt überqueren wir zu Fuss eine Brücke und halten kurz inne, um unter uns eine riesige Militärparade zu bestaunen, die mit tausenden Robotern und dickem Kampfgerät rumprotzt. P-3's Aufgabe besteht darin, sich im städtischen Labor ein paar Upgrades abzuholen. Netterweise wird uns auch ein Kleinwagen zur Verfügung gestellt. Doch gefahren wird nicht. Eine dicke Drohne krallt sich den PKW und düst im gemütlichen Tempo ein paar Dutzend Meter über dem Boden Richtung Zielort. Der kleine Ausflug wird jedoch jäh unterbrochen, als wir unerwartet von einer anderen Sicherheits Drohne angegriffen werden. Die Roboter haben plötzlich in den Combatmode geschaltet und mähen nun alles nieder, was nicht nach Android aussieht. Wir überleben den Absturz nur knapp und retten uns mit Hilfe eines skurrilen NPCs in den Bunker 3826. Und hier sitzen wir die ersten Stunden fest, bevor wir in den Open World Part von Atomic Heart entlassen werden. Aber alles der Reihe nach.
Agent P-3 ist nicht gänzlich alleine. In seiner linken Hand stecken ein paar Nanodrähte, die zu unserer internen KI CHAR-LES gehören. Der gesprächige Kabelsalat bringt eine stattliche Anzahl an Fähigkeiten mit. Mit dem Scan werden in unterschiedlichen Farben umliegende Feinde, Key Items, Infoterminals und Loot angezeigt. Letztere werden in sekundenschnelle dank CHAR-LES Telekinese eingesogen und aufs interne Konto geschaufelt. Gewisse Schlösser knackt unser Sidekick manuell mit zwei Kabeln. Mit dem Shocker elektrisieren wir kurzzeitig Feinde oder setzen Drohnen Spender ausser Gefecht. Im Skilltree haben wir etwa 70 unterschiedliche Upgrades. Unter Anderem erhalten wir einen Freezeskill, der unser Gegenüber für ein paar Sekunden einfriert, ein Schutzschild oder wir decken sie mit einem Polymer Gel ein und setzen die Schurken in Brand. Wir können unsere Widersacher auch wie Darth Vader in die Luft heben und mit einem saftigen Schuss aus der Pumpgun verabschieden.
Für diese aktiven Attacken mit einer kurzen Abklingzeit, stehen uns zwei Slots zur Verfügung und sie können im Kampf per Digipad gewechselt werden. Nebst den neuartigen Technologien greift P-3 auf herkömmliches Kriegsgerät zurück. Anfangs schwingen wir uns mit der Axt durch die Androidenarmee. Bald aber finden wir Schrotflinte, 9mm, Elektropistole, Sturmgewehr, Bazooka und weitere Alternativen zur obligatorischen Feindesdezimierung. Und auch die Wummen und Schlagwaffen lassen sich verbessern. Dafür nutzen wir gesammelten Schrott an speziellen Verkaufsautomaten, die regelmässig anzutreffen sind. Hier können wir, insofern wir über den Blueprint verfügen, neue Waffen zusammenschustern, Munition craften, den einen oder anderen Heiltrank herstellen und den Skilltree anpassen.
Die ersten paar Stunden verbringen wir mit CHER-LES im Bunker. Wilde Prügeleien mit der Axt wechseln sich mit teils knackigen Rätseln ab. Irgendwann stellt sich uns ein Miniboss in den Weg. Und hier zeigt es sich, dass selbst im Normalmodus die Levelkanzler richtig knackig sind. Haben wir den Bunker endlich hinter uns gelassen, geht's raus in die grosse weite Oberwelt. Wobei, wir wollen nicht übertreiben; Atomic Heart bietet zwar eine Open World, diese dient jedoch ausschliesslich dazu, die Punkte der Storymissionen zu verknüpfen oder die eine oder andere Nebenquest zu finden. Und hier bietet sich die Wahl an, ob man Atomic Heart als Survival Shooter durchspielen oder lieber ein Kugelmassaker à la DOOM veranstalten möchte. Folgt ihr nur den Storymissionen, bleiben euch wertvolle Upgrades für die Knarren und Schlagwaffen verwehrt und die Munition ist rar. In speziellen Dungeons, die Polygone heissen, lösen wir Sidequests, die wiederum mit kniffligen Rätseln und einer stattlichen Anzahl an aggressivem Robotergesocks auffahren.
Im Parkourbereich hat P-3 einen (zu) kurzen Jump, den er mit dem Ausweichsdash kombinieren kann, hangelt sich an Rohren und Querstangen hoch und legt auch die eine oder andere Plattform Akrobatik hin. Für weitere Entfernungen - und mangels einer Schnellreisefunktion - kapern wir uns einen PKW und düsen zum nächsten Missionsziel, insofern uns die durchgedrehte Roboterarmee in Ruhe lässt und nicht den Karren in die Luft jagt.
Fazit Armin:
Atomic Heart ist ein sehr ambitioniertes Projekt, das gelegentlich über seine eigenen Füsse stolpert. Denn will man als Neuling ganz oben mit den grossen Jungs mitspielen, muss man auch abliefern. Und das tut Atomic Heart in weiten Teilen. Grafisch und soundtechnisch bleiben keine Wünsche offen, wobei die triste Oberwelt mit teils atemberaubender Architektur des Maingames entschädigt. So sauber und schön die Technik auch ist, beim Gameplay und dem Balancing muss man gewisse Abstriche hinnehmen. Die ersten paar Stunden waren gewöhnungsbedürftig und ich bin im Gegensatz zu Sascha auch jetzt der Meinung, dass eine Lock On Option ein willkommenes Feature gewesen wäre. Hab ich es mit mehr als 3 Kaspern zu tun, verliert man den Überblick und kann nur noch hoffen, dass der Schaden unserer Waffe ausreicht, bevor die Lebensenergie zu Ende geht, zumal einige Feinde auch im Easy Modus massiv einstecken. Sind wir aber erst ein wenig aufgelevelt, machen die Kämpfe einiges mehr Spass und Ballern steht dann klar im Vordergrund.
Erstaunlich ist auch die Rasterdichte. Alle paar Minuten treffen wir auf ein Puzzle oder eine Umgebungsknobelei, die sich sehr abwechslungsreich gestalten und gelegentlich etwas Hirnschmalz erfordern. Am coolsten fand ich die actionreichen Bossfights, wo Atomic Heart absolut brilliert. Grosse Arenen mit fairen Chancen, wenn es auch die KI manchmal mit dem pausenlosen Attacken Gewitter übertreibt. Ob ich den ersten harten Miniboss dann nochmals gefühlte 5 Mal in der Oberwelt verprügeln muss, sei mal dahingestellt. Das Autofahren ist sehr rudimentär, welches mehr zur Zweckmässigkeit ausartet und wenig Wert auf den Funfaktor legt. Das ständige Geplappere von Char-les mag einige Spieler nerven, mich hat der schräge Humor bestens abgeholt. Atomic Heart ist fordernd und abwechslungsreich und nimmt euch nicht an die Hand, als wären wir in der Spielgruppe, kann aber auch nicht verbergen, dass die eine oder andere Baustelle noch existiert, die hoffentlich mit einem Patch behoben wird. Als Erstprodukt dieses noch jungen Entwicklerteams hat Mundfish im Gesamten gesehen jedoch eine sehr solide Arbeit abgeliefert, die besonders Fans von Fallout und Bioshock gefallen wird.
Fazit Sascha:
Schon nach dem sensationellen Prolog-Level, der sich gut und gern über eine Stunde hinzieht und mit zum Besten gehört, was ich in meiner Gamer Laufbahn in Sachen "Introduction" gesehen habe, ahnte ich, dass wir es hier mit einem Hit zu tun haben könnten. Das dem in der Tat so ist, wurde mir aber erst sehr viel später klar, denn das Spiel versteht es, einen selbst nach Stunden immer wieder zu überraschen. Den enormen Umfang konnte ich nicht erahnen. Entwickler Mundfish hat versucht wirklich alles reinzupacken, was uns in den letzten 20 Jahren bei Story-Shootern so viel Spass gemacht hat. Angefangen beim griffigen Gunplay und massig Loot, über eine Crafting-Mechanik, eine offene Welt mit linearen Dungeons, ein komplexes KI-Ökosystem, jede Menge guter Puzzles, bis hin zu den abgefahrenen Skills, die das Gameplay teilweise buchstäblich auf den Kopf stellen. Der Gameplay-Loop macht einfach süchtig und ich konnte das Spiel nicht mehr beiseite legen, bis die Credits über meinen OLED flimmerten. Ist Atomic Heart perfekt? Nein, das Ende kam dann doch etwas überraschend und auch wenn es sich zum Release in der Version 1.0 schon ziemlich poliert anfühlte, gab es doch ein paar nervige Bugs und Defizite beim Klettern und Springen. Das war mir aber alles ziemlich egal, weil ich einfach soviel Spass damit hatte. Für mich steht Atomic Heart folglich ganz weit oben, auch wenn es nicht ganz die Qualitäten meiner Lieblinge wie Prey, Wolfenstein oder Bioshock erreichen konnte.
Wir haben Atomic Heart auf PS5 und Xbox Series X gespielt. Das Spiel ist auch für den PC erhältlich und Teil des Xbox Game Pass. Das frühe Test-Muster stammt von Plaion, wofür wir uns herzlich bedanken!
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